„I don’t wanna stop, we push it to the limit“

Nach Eurovision ist vor Eurovision

Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf bonz.ch

Der Eurovision Song Contest gehört zu einer sehr exklusiven Kategorie von Dingen:
Dinge, die in Diskussionen von niemandem ernst genommen werden. Und dabei sehr gerne absolut zerissen werden.

Und trotzdem gehört das Event auch dieses Jahr mit geschätzten 163 Millionen Zuschauern zu den grössten TV-Events auf der Welt.

Auch für mich selbst war Eurovision die letzten zehn Jahre mit ausnahmsweisen Durchbrüchen eher unsichtbar. Erinnerungen aus Kindheit und early adulthood sind aber auch bei mir immer noch präsent:

In jüngster Zeit mitbekommen hab ich vorallem, und meistens erst nachträglich:

Zusammengefasst war mir also im Hinterkopf bewusst dass es den ESC gibt, aber verfolgt habe ich Ihn überhaupt nicht.
Das änderte sich am 29. Februar (ausgerechnet am Schalttag!) mit der folgenden Whatsapp-Nachricht von einer ESC-begeisterten Kollegin:

Damit war mein Schicksal besiegelt und mein descent into madness begann. Aber ich greife vor.

Zuallerst war ich erstmal positiv geflashed, dass die Schweiz Nemo schickt. Frühere Songs wie „Himalaya“, „Du“ und „Ke Bock“ waren schon ein paar Jahre in meiner Rotation. Was „The Code“ aber abliefert, könnte fast nicht weiter davon entfernt sein. Das absolut perfekte Musikvideo ist eine AchterbahnZugfahrt der Gefühle und Genres. Es beginnt mit Mika-vibes (Moment mal, wie sind wir von CH-Rap plötzlich hier gelandet?), kombiniert spielerisch Opera, Drum n‘ Bass und weiss auch mit einem absoluten Gänsehaut-moment aufzuwarten.

Zudem hat der Song auch Layers, die aber nicht erkennt werden müssen, um den Song genial zu finden. Wer Nemo’s Karriere-Profil auf hitparade.ch studiert wird auffallen, dass es nach den 4 Swiss Music Awards in 2018 bezüglich Hits plötzlich etwas still wurde. Ende 2023 kam dann das Coming-out als nonbinär und mit „This Body“ ein Song der sehr deutlich, macht dass Nemo schwierige Zeiten durchgemacht hat. „The Code“ als Gegenstück berichtet hingegen vom Triumph den Nemo durch Selbstakzeptanz fühlt. Der Code den Nemo gebrochen hat, ist die binäre Definition der Geschlechter, Nemo fühlt sich „Somewhere between the 0’s and 1’s“ wohl.

Es hat ein paar Anläufe gebraucht, um mich von „mag ich“ zu „völlig überzeugt“ zu bringen, aber schon am nächsten Tag war ich innerlich bereit Malmö niederzubrennen, sollte dieser Song nicht mindestens die Top 3 erreichen.

Down the rabbit hole

Mit dem Grand Final noch über 2 Monate entfernt, war es nun natürlich Zeit für eine der Königsdisziplinen vieler neurodiverser Menschen wie ich:
Mich total obsessiv mit einem Thema zu beschäftigen.

Es begann wie so oft harmlos, mit Reaction Video’s zu dem Beitrag der Schweiz. Ich muss über hundert mal gesehen haben, wie Menschen mit Begeisterung auf den Gänsehaut-Moment und das ganze Video an sich reagierten. Favorit aus nicht näher erklärten Gründen ist dabei folgende Reaktion, bei der ich absolut kein Wort verstehe:

Natürlich war es dann naheliegend sämtliche Videos der anderen Beiträge ebenfalls anzusehen. Ich musste ja wissen, wie realistisch ein Sieg nach über 36 Jahren tatsächlich ist…
Natürlich ist es Pflicht, sich auch jeden Tag sämtliche Beiträge auf reddit.com/r/eurovision durchzulesen…
Natürlich ist es Pflicht, seine eigenen Charts mit Prognosen erstellen…

Es bleibt auch anzumerken, dass es sich bei 2024 um ein Jahr mit extrem viel guten Songs (und extrem viel Drama!) gehandelt hat. Einige hätten den Sieg mindestens genauso verdient. Nicht zuletzt Croatia 2024, die mit „Baby Lasagna“ einen super sympathischen Performer mit einer einzigartigen Story brachten. Während die Schweiz eine interne Selektion für den Contest durchführt, gibt es in Kroatien eine nationale Vorausscheidung, für die Baby Lasagna aber ursprünglich gar nicht gesetzt war! Erst als ein anderer Act kurzfristig absagte, konnte er nachrücken und setzte sich quasi aus dem Nichts an die Spitze der Vorausscheidung, aber auch der Wettquoten für den Contest allgemein. Zudem wäre es der erste Sieg für Kroatien unter diesem Namen gewesen. Baby Lasagna gewann dann auch völlig verdient den Public Vote, konnte sich aber letztendlich nicht gegen die Jurydominanz von Nemo durchsetzen.

Nemo’s Performance im Finale war geprägt von einer sehr ungewöhnlichem Präsentation, viel Risiko und einer gesanglichen und charismatischen Tour de Force.

Im Vorfeld hatte ich angezweifelt, dass das Staging dem genialen Song gerecht werden kann.
Ich wurde dann absolut eines besseren belehrt. Der Mix aus Auf-und-Ab, Risiko und Begeisterung passte absolut perfekt zum Song.

Der Moment der Entscheidung, als wir mit geschlossenen Augen auf eine genügend hohe Zahl warteten (ich persönlich lauschte nur ob eine „Two“ am Anfang ist, da Nemo 182 Punkte brauchte), wurde mit einem tausend mal besserem Gefühl belohnt als z.B. der gehaltene Mbappé-Elfer gegen Frankreich. Und doch bleibt ein bisschen Wehrmut, dass für diesen Erfolg leider auch die Märchenstory von Baby Lasagna endete.

Aussicht

In der Fancommunity wird oft scherzhaft von der Post Eurovision Depression berichtet. Für den grössten Teil des Jahres wird es nur noch spärlich Nachrichten und Videos zum Thema geben, bevor es Ende Jahr dann mit ersten Songankündigungen bzw. Vorausscheidungen losgeht. Natürlich ist es als Mensch aus dem Gewinnerland eher leicht diesem Gefühl zu wiederstehen, aber ich muss sagen: Ich bin sehr überzeugt, dass, wäre stattdessen Kroatien zuoberst auf dem Treppchen gestanden, ich nach diesem faszinierendem Jahr auch ziemlich schnell wieder von Vorfreude gepackt worden wäre. Denn:
Nach Eurovision ist vor Eurovision.


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